Bregenz – Wüstenoper auf dem Bodensee

bregenz_aida_01_karl_forste

Die sensationelle Bregenzer „Aida“ hat 2009 alle Besucherrekorde gebrochen! Ich war daher sehr gespannt auf meine erste Hirsch-Reiseleitung nach längerer Babypause, die mich am 25. Juli zu den Seefestspielen führen sollte. Das Wichtigste für den Festspielreisenden ist bekanntlich der Wetterbericht. Den hatte ich schon seit Tagen (zuletzt nochmal 30min vor der Abfahrt) bei verschiedenen Online-Wetterdiensten gecheckt: Alle stimmten überein, dass es gar nicht gut aussah … Nachdem wir wochenlang unter tropischer Sommerhitze gestöhnt hatten, änderte sich ausgerechnet zu Beginn der Festspielsaison das Wetter: Die Premiere musste im 3. Akt abgebrochen werden. Dauerregen und miese Aussichten vor allem für die südliche Landeshälfte trüben meine Vorfreude – erhöhen andererseits natürlich die Spannung! Am Samstagmorgen gießt es bei uns in Tübingen in Strömen. Bei Herrenberg im Schönbuch besteige ich den Reisebus aus Karlsruhe und werde von Chauffeur Günther Dick samt 50 gespannten Reisegästen herzlich empfangen. Gen Süden scheint es heller zu werden. In unserer Kaffeepause im Hegau genießen wir unter aufgelockerter Wolkendecke den Blick auf die originelle Vulkanlandschaft. Beim Verteilen der Eintrittskarten bemerke ich trotzdem eine gewisse „meteorologische Besorgnis“. Kollege Günther hingegen ist völlig gelassen und optimistisch – was sich im Übrigen den ganzen Tag nicht ändern wird.

Begegnung mit dem Bodensee

Bei Überlingen erreichen wir den Bodensee. Mitteleuropas drittgrößter See mit seiner wunderbaren Landschaft, den Obst- und Weingärten, den idyllischen Uferstädtchen, präsentiert sich uns so dunkelgrau wie der Himmel. An diesem Wochenende werden wir ihn komplett umrunden und dabei durch zwei deutsche Bundesländer, 30 km österreichisches Vorarlberg und drei Schweizer Kantone kommen.

Kurios ist, dass der See im deutschsprachigen Raum seit 1000 Jahren nach der einstigen Kaiserpfalz Bodman benannt wird, in anderen Ländern hingegen nach der heute wichtigsten Stadt „Lac de Constance“ o.ä. heißt. Namenstechnisch hinken wir also hinterher – bzw. bewahren die Tatsache, dass sich der See im Mittelalter tatsächlich im Zentrum Europas befand: Fromme Mönche aus Irland missionierten Heiden, kultivierten Einöde und gründeten Klöster. Mächtige Äbte und Bischöfe regierten wie Fürsten, errichteten prächtige Kirchen und Schulen, förderten Handel und Kultur. Ein Beispiel barocker Pracht liegt gleich an der Straße: Majestätisch thront die Klosterkirche Birnau über Weinhügeln und See – doch wir müssen heute auf den Besuch beim berühmten „Honigschlecker“ verzichten, der für die süßen Worte des Heiligen Bernhard steht. Das nahe Unteruhldingen lädt mit seinem berühmten Pfahlbaumuseum dazu ein, das Alltagsleben in der Jungsteinzeit erforschen. Etwa 100 Pfahlbausiedlungen von 3000-800 v. Chr. sind an den Ufern des Bodensees nachgewiesen.

Von König Dagobert zur Magischen Säule

Nun erreichen wir unser erstes Etappenziel: Meersburg. Als wir den Bus vor den Toren der Oberstadt verlassen, beginnt es zu regnen. Also: Schirme raus und nix wie durch! Zuerst zum Neuen Schloss. Seine barocke Silhouette verdankt das Städtchen den Konstanzer Fürstbischöfen, die aus ihrer protestantisch gewordenen Stadt ins Meersburger „Exil“ geflüchtet waren und 300 Jahre hier residierten. Bald wurde ihnen die alte Burg zu unbequem – eine repräsentative Residenz musste her, für die zeitweise sogar der damalige Stararchitekt Balthasar Neumann verpflichtet wurde. Leider ist heute die hübsche Gartenterrasse geschlossen und wir müssen auf den schönen Blick auf Unterstadt, Obersee und die Insel Mainau verzichten. Bevor wir den steilen Gassen hinabsteigen, gilt unser Interesse dem Alten Schloss.

Über einen tiefen Graben blicken wir zur „ältesten Burg Deutschlands“, angeblich vom Merowingerkönig Dagobert erbaut, mit 3m dicken Mauern. Im 19. Jh. erwarb sie ein gewisser Joseph von Lassberg. Sammler alter Handschriften, Entdecker des Nibelungenlieds und Mittelalterfan überhaupt, rettete er die Burg vor dem Verfall und empfing bedeutende Gäste: Seine Schwägerin, Annette von Droste-Hülshoff, verbrachte immer wieder längere Zeiträume auf der Meersburg, die zu schöpferischen Höhepunkten in ihrem Leben wurden. Ihre berühmtesten Gedichte wie Der Knabe im Moor oder Am Thurme entstanden hier. Als sie 1848 auf der Meersburg starb, war ihr Werk allerdings so gut wie unbekannt, erst Ende des 19. Jh. wurde sie als bedeutende Dichterin entdeckt. Die Wohnräume im Biedermeierstil, die das „entsetzlich gelehrte Frauenzimmer“ (so ihr Schwager) bewohnte, sowie das Fürstenhäusle in den Weinbergen, das sie mit 47 Jahren vom Erlös eines Gedichtbands (ihrem ersten eigenen Geld überhaupt) erwarb, kann man besichtigen. Doch wir spazieren weiter in die Unterstadt.

Übereinstimmend stellen wir fest, dass Meersburg seinen ursprünglichen Charme ziemlich eingebüßt und sich doch sehr dem Massentourismus angepasst hat. Dafür lockt uns ein neues Wahrzeichen zur Seepromenade: die Magische Säule von Peter Lenk. Wie immer bei diesem Künstler war die Enthüllung 2007 ein Skandal! Skurrile „Lokalgrößen“ hat Lenk ausgewählt: Neben dem Teufelsaustreiber Gassner, der im 18. Jh. diverse Übel kurierte, indem er „böse Winde“ zum Hinausfahren zwang, präsentiert sich das hässliche, nackte Edelfräulein Wendelgard von Halten aus einer mittelalterlichen Legende in recht obszöner Pose. Franz Anton Mesmer, der mit Magnetismus heilte, triumphiert, während seine Widersacher der Wiener und Pariser Akademie im Käfig zappeln. Der Freiherr von Lassberg reitet als Don Quijote vom Bodensee sein Steckenpferd, und über allen kreist Annette von Droste-Hülshoff als Möwe, wie sie es sich in dem Gedicht „Am Thurme“ gewünscht hat.

meersburg_magische säule_annette droste

Das Wunder von Bregenz

Nach einer kühlen Mittagspause – manche haben sich leckere Felchen gegönnt – geht’s weiter über Friedrichshafen und Lindau, zu Verdi-Klängen und mit immer bangeren Blicken nach draußen. Es wird immer dunkler, der Regen stärker. Allein Günther beharrt darauf, dass es sich gleich wieder aufhellen würde – niemand glaubt ihm mehr, manche reagieren mit Galgenhumor: „Da kommt die Sonne raus!“ – „War nur ein gelber Schirm!“ – Stau: „Die vorne bremsen, weil sie ihre Sonnenbrillen suchen müssen!“ etc. In Bregenz angekommen, gießt es so heftig, dass wir es kaum wagen, die Koffer auszuladen. Der über 1000m hohe Pfänder ist nicht zu sehen. Der See auch nicht – so dicht prasselt der Regen. Erst gegen 18.30 Uhr setzt der Regen aus. Beim Abendessen werde ich mit Fragen bestürmt: Tatsächlich entscheidet die Festspielleitung erst 5 min vor Beginn, ob die Vorstellung auf der Seebühne stattfindet oder (nur für die Gäste mit den teuersten Karten!) im Festspielhaus – freilich ohne die spektakuläre Kulisse.

Und das Wunder geschieht! Als wir zu Fuß zur Vorstellung aufbrechen und die Seepromenade entlanggehen, reißen die Wolken auf, und kurz vor 21 Uhr sehen wir die Sonne zum ersten Mal am heutigen Tag! Ein wunderbarer Sonnenuntergang über dem See belohnt uns …

Aida in Guantanamo – die Freiheit in Trümmern

Die Vorstellung ist grandios und übersteigt alle Erwartungen! Eine Aida im Wasser statt in der Wüste, ganz ohne Pyramiden, dafür mit den riesigen blauen Füßen der zerbrochenen Freiheitsstatue! (Die standen übrigens den ganzen Winter über da: In Bregenz muss ein Bühnenbild zwei Jahre halten.) Regisseur Graham Vick spitzt Verdis Ägyptenmelodram zu einem radikalen Antikriegsstück zu, voller (zum Teil krasser) Anspielungen an den Irakkrieg: Die Sklaven am Pharaonenhof, die mit Säcken über den Köpfen wie Hunde an der Leine geführt werden und die gefangenen Äthiopier in orangefarbener Sträflingskleidung rufen Schlüsselbilder aus dem US-Gefängnis Abu Ghuraib oder Guantanamo wach. Ob man solche Transfers mag oder nicht – es gibt auf jeden Fall wahnsinnig viel zu sehen und immer wieder so erstaunliche Überraschungen, dass man bisweilen gar nicht weiß, wo man hingucken soll, um ja nichts zu verpassen!

Für seine spektakuläre Bühnentechnik ist das Bregenzer Festival zu Recht berühmt. Nicht umsonst wurde 2008 die Seebühne mit dem riesigen Auge der Tosca Schauplatz des James-Bond-Streifens Ein Quantum Trost. Diesmal beziehen der Regisseur und der Bühnenbildner Paul Brown den Bodensee noch viel stärker in die Inszenierung ein: Plattformen und Kulissen erheben sich aus dem Wasser bzw. verschwinden darin. Schiffe fahren umher. Die Bühne, die aussieht wie ein riesiger Trümmerhaufen, verändert sich ständig. Zwei gelbe Baukräne, die die herumliegenden Fragmente der Freiheitsstatue flankieren, spielen eine „tragende Rolle“: Sie befördern Kulissenteile über die Bühne, setzen das Gesicht der Freiheitsstatue zusammen und lassen am Ende das zum Tode verurteilte Liebespaar Aida und Radames in einer goldenen Barke 50 m hoch zum Himmel aufsteigen und entschwinden – sehr ergreifend!

Aber zurück zur Vorstellung: Sänger und Tänzer treten am und im Wasser auf – und manchmal auch hoch in der Luft. Amonasro, Aidas Vater, der an den Ufern des Nils die Liebenden belauscht, verbringt den 3. Akt großenteils im Wasser. Besonders an den Sänger des Radames werden hohe körperliche Anforderungen gestellt: Gleich zu Beginn muss er zur berühmten Liebesarie „Celeste Aida“ auf einer Art Klettergerüst balancieren. Zum triumphalen Einzug nach seinem Sieg über Äthiopien kommt er, auf einem riesigen goldenen Elefanten stehend, über den See gefahren – eines der tollsten Bilder des Abends! Nach seiner Festnahme hängt er in einem Netz gefangen am Kran, der ihn den halben Akt lang über die Bühne schaukelt – da muss ich an das Interview denken, in dem der Sänger Rawls bei der Schilderung dieser Szene meinte, er hätte vor der Probe lieber doch keine Pizza essen sollen…

Toll fand ich auch das Ballett der zu ihren Frauen heimkehrenden GIs, die knöcheltief im Wasser tanzten. Neben Sängern, Tänzern, Statisten und Kranführern spielen in Bregenz auch Taucher eine wichtige Rolle – als Stunt- oder Sicherheitstaucher begleiten sie die actionreiche Inszenierung.

Und die Musik? Die ist auch wunderbar, ganz klar. Die verstärkten Stimmen finde ich erstmal etwas gewöhnungsbedürftig; lustigerweise hört man zu Beginn tatsächlich Enten dazu quaken! Schon seltsam, dass man das Orchester gar nicht sieht – das ist in der „Orchesterwanne“ des Betonkerns unter der Bühne versteckt. Doch auf seitlichen Leinwänden, die ich erst spät entdecke – so spannend ist das Bühnengeschehen, werden Bilder der Wiener Symphoniker und des Maestros Carlo Rizzi übertragen und man merkt, dass es wirklich live ist …

Bregenzer Aida in Zahlen*
6800 Zuschauer
fasst die Seebühne
1500 Menschen beschäftigt das Festival im Sommer
751 Scheinwerfer beleuchten die Bühne
400 Personen arbeiten an einer Aufführung mit
15 Meter lang sind die blauen Füße – das entspräche Schuhgröße 2.400; der zugehörige Mensch wäre 100m groß.
12 Tonnen Gewicht muss der linke Kran heben
99 Prozent betrug die Auslastung der AIDA in der Saison 2009
* entnommen aus„Extrablatt“ Bregenzer Festspiele Juni 2010

Heimliche Hauptstadt vom Bodensee

Am nächsten Morgen sind alle noch ganz erfüllt vom Erlebten. Ein Reisegast meint: Wir haben eine Opernaufführung gebucht und einen Krimi dazubekommen“ (wettertechnisch). Von Bregenz, der ältesten Stadt am Bodensee, die dem „Lagus Brigantinus“ in Römerzeit seinen Namen gab, haben wir nicht viel gesehen. Immerhin wohnten wir in der zentralen Kornmarktstraße in direkter Nachbarschaft des spektakulären würfelförmigen Kunsthauses von Paul Zumthor. Zurück geht’s entlang des Schweizer Ufers, vorbei an St. Gallen/Rorschach und Kreuzlingen nach Konstanz.

Die schöne Stadt erleben wir bei herrlichem Sommerwetter. Am Hafeneingang dreht sich die 9m hohe römische Edelnutte Imperia, die Peter Lenk nach einer Erzählung Balzacs geschaffen hat. Kaiser und Papst hält sie wie klägliche Hampelmänner in ihren Händen. An die 1000 „Hübschlerinnen“ sollen sich während des Konstanzer Konzils 1414-18 um das Wohlbefinden der weltlichen und geistlichen Elite Europas gesorgt haben. Über 60.000 Gäste beehrten damals in die 6000-Einwohner-Stadt. Konstanz war Mittelpunkt der Welt. Man erließ eine umfassende Kirchenreform, setzte drei Päpste ab und wählte einen neuen – gleich gegenüber, im „Konzil“ genannten mittelalterlichen Kaufhaus, in dem sonst Leinen und Seewein gelagert wurden. Wir spazieren über die Marktstätte, einem einladenden Platz voller Eis-Esser, und bewundern die Figuren an Gernot Rumpfs Kaiserbrunnen: Barbarossa und Kollegen, den dreiköpfigen Pfau für die vom Konzil abgesetzten Päpste und die spuckenden Seehasen.

konstanz_kaiserbrunnen
Nach einem Blick in den hübschen Innenhof des Renaissance-Rathauses geht es Richtung Niederburg, dem ältesten Viertel der Stadt, die übrigens nur deshalb so unbeschadet den 2. Weltkrieg überstanden hat, da sich der Bürgermeister dem Verdunklungsverbot widersetzte und die Stadt aus der Luft nicht vom nahen Kreuzlingen zu unterscheiden war. Am Münsterplatz kann man durch eine Glaspyramide zu Resten des Römerkastells „Constantia“ hinuntergucken. Das Münster ist noch in Teilen romanisch und erinnert daran, dass der Hl. Konrad im 10. Jh. aus seiner Bischofsstadt ein 2. Rom machen wollte. Die eindrucksvolle Mauritius-Rotunde mit dem Heiligen Grab erinnert an seine Pilgerfahrten nach Jerusalem. Leider findet ausgerechnet heute eine Feier im Münster statt, so dass wir die Schätze, die der reformatorische Bildersturm übrig ließ – unter anderem das zierliche Treppentürmchen „Schnegg“ und die 1000-jährigen Goldscheiben in der Krypta -nicht gemeinsam ansehen können. Dafür genießen wir eine sonnige Mittagspause. Vorbei an der Gemüse- und Klosterinsel Reichenau fahren wir durch den Schwarzwald zurück, folgen zwischen Villingen und Offenburg der Trasse der legendären Schwarzwaldbahn, sehen bei Triberg die größte Kuckucksuhr der Welt stärken uns bei den Vogtsbauernhöfen im Gutachtal mit „Original Black Forest Cake“. Kurz vor Karlsruhe setzen Regen und Gewitter ein. Was haben wir für ein phänomenales Glück gehabt!!

Beachten Sie unser Angebot:

https://www.hirschreisen.de/reiseziele/oesterreich-schweiz/oesterreich/bregenz/