Reise in Polen

Fast genau 100 Jahre ist es her, dass Alfred Döblin ins Nachbarland reiste, um zu wissen, „was in dem Land jetzt vorgeht“. So ambitioniert sind wir nicht, und so viel Zeit haben wir nicht. Trotzdem sind wir sicher, dass es für uns außer den schönen historischen Städten viel zu sehen und zu erfahren gibt.

Wie Döblin wählen wir die Eisenbahn und fahren über Frankfurt und Leipzig nach Dresden. Es ist Sonntag und Stadtfest. Viele Einheimische und Touristen sind unterwegs in der Altstadt und an den Elbufern, Live-Musik wird gespielt, und Theater. Semperoper und Frauenkirche leuchten in der heißen Nachmittagssonne. Zum Abendessen sind wir mit Hirsch-Reiseleiterin Kristina Kaden im Freiberger Schankhaus an der Frauenkirche verabredet. Sie erklärt unseren Töchtern, warum die Frauenkirche Frauenkirche heißt und trotzdem Männer rein dürfen.

Am nächsten Morgen lernen wir beim Frühstück im Ibis-Hotel eine ältere Dame aus Münster kennen. Wir haben Zeit und hören ihr zu. Sie stammt aus der Gegend, erlebte als Kind die Bombennächte, floh mit 18 aus der DDR, schlug sich alleine im Westen durch und durfte über Jahre ihre Familie nicht sehen. Für die Kinder sind das Geschichten aus einer anderen Zeit.

Vom Bahnhof Dresden-Neustadt nehmen wir die Regionalbahn über Bautzen nach Görlitz. Schon auf dem Fußweg zum Hotel fallen uns die schönen Häuserfassaden auch außerhalb der Altstadt auf. Die schauen wir anschließend an. Sie ist erwartungsgemäß malerisch, wirkt auf uns kulissenhaft, weniger lebendig als Dresden. In einem Café probieren wir die örtliche Süßspeisen-Spezialität, sehen die Silbermann-Orgel in St. Peter und Paul und überqueren auf der Europabrücke die Neiße nach Zgorzelec und wieder zurück. Selbst in den Gassen ist es heiß. Zur Abkühlung besuchen wir das „Weihnachtshaus“, einen zweistöckigen Laden für regionalen Weihnachtsschmuck.

Rund 4000 Baudenkmäler aus sieben Jahrhunderten fügen sich zu einem „Bilderbuch der Baukunst“

Hirsch-Reisebuch 2023, „Kultur und Natur im Dreiländereck“

Um weiter zu reisen, müssen wir zunächst eine Station nach Zgorelec fahren. Wegen Bauarbeiten fährt der Zug auf einem anderen Gleis als üblich, was einen Mann in Rage bringt. „Ich verstehe jeden, der AFD wählt“, tönt er. Seine Begleiterin macht ihn darauf aufmerksam, dass die Bundesregierung nur bedingt verantwortlich für Görlitzer Gleisänderungen ist. Vergeblich.

In Zgorelec steigen wir in den Zug nach Wroclaw (Breslau) um. Wir halten in Zagajnik, Zebrzydowa, Boleslawiec, Okmiany, Osetnica, Chojnow, Milkowice, Legnica, Szczedrzykowice, Malczyce, Sroda Slaska, Przedmoscie Swiete, Miekinia und Mrozow. Von wegen melodiöser polnischer Sprache. Wir sehen Polen mit stolzen Bäuchen, lauschen den „pikant geschminkten“ (Döblin) Polinnen, betrachten die örtliche Teenager-Mode, beobachten eine mitreisende Katze und erschrecken ob des vermeintlichen Ablebens eines alten Mütterchens. Am Zielbahnhof bewegt sie sich wieder, Gott sei Dank.

Mit der Straßenbahn zum Hirsch-Hotel Radisson Centrum. So vornehm wohnen wir sonst nicht. Es liegt am Ufer der Oder, mit Blick auf die Dominsel. Ein Schmuckstück, diese Stadt. Wir ziehen los, durch die diversen Parks, vorbei an der Oper, dem legendären Hotel Monopol und dem 110 Mio. teuren Neuen Musikforum. Wir besuchen die Synagoge zum weißen Storch im Vier-Tempel-Viertel, kommen über den Salzmarkt auf den glanzvollen Marktplatz Rynek, sehen die „Hänsel und Gretel“ genannten windschiefen Häuschen an der Nordwestseite, werfen einen Blick in die backsteinerne Elisabethkirche, spazieren durch die ehemaligen Schlachtbänke ins Universitätsviertel mit dem Ossolineum, wandern über die Sandinsel mit der Kirche Maria auf dem Sande auf die Dominsel und fahren, zunehmend erschöpft, mit dem Fahrstuhl auf den himmelsstürmenden Turm der Kathedrale. Nicht ohne uns vorher über die Warteschlange am Beichtstuhl zu wundern. In einem Lokal am Oder-Ufer stärken wir uns mit Pierogi, die es zur Freude meiner Frau auch in vegetarisch gibt.

Nachdem die Kinder weitere Kirchenbesuche verweigern, fahren wir mit der Straßenbahn zur Jahrhunderthalle. Die eigentliche Attraktion finden wir dahinter: Wasserspiele mit Musik und kühlende Brunnen. Für das Museum im Vier-Kuppel-Pavillon sind wir zu spät, es schließt schon um 17 Uhr. So bestaunen wir die Iglica, eine 96 m hohe Stahlskulptur, als Erinnerung an den Weltfriedenskongress und die „Ausstellung der wiedergewonnenen Gebiete“ 1948. Das Thema Grenzziehungen ist ein leidvolles in der polnischen Geschichte.

Zurück im Zentrum durchwandern wir einen wahren Konsumtempel von Einkaufszentrum. Am Abend sinken wir ermattet in die Betten, in den Schlaf gesungen von einer Operndiva – im Park vor dem Hotel wird eine Open-Air-Oper aufgeführt.

Es gibt in Polen kaum noch Läden, die man tatsächlich direkt von der Straße betreten kann. Das Land hat über 420 Einkaufszentren, fast so viele wie Deutschland, obwohl dort doppelt so viele Menschen leben.

Emilia Smechowski: „Rückkehr nach Polen“

Für die nächste Etappe nehmen wir den Fernbus, über Katowice nach Krakow (Krakau). Die Landschaft ist langweilig, flach, Äcker, einige Städtchen. So haben wir Zeit zum Schlafen und Lesen. Vom Busbahnhof nehmen wir die „Elektrische“ (Döblin) zum Hirsch-Hotel Qubus, auf der anderen Seite der Weichsel. Wir steigen am Platz der Ghettohelden aus. 70 verwaiste Bronzestühle erinnern daran, dass hier viele Juden auf ihre Deportation warten mussten. Eine eindringliche Installation. In der Nähe liegt Schindlers Fabrik, heute ein Museum.

Die Besichtigung von Krakow beginnen wir am anderen Ende der Altstadt, um dem Königsweg zu folgen. Vom Stadttor Barbakane kommen wir zum glanzvollen Hauptmarkt mit Marienkirche und Tuchhallen. Renaissance oder Orient? Unter den Tuchhallen befindet sich das Museum für Stadtgeschichte Podziemia Rynek. Digital und interaktiv wandeln wir durch die Vergangenheit. In die Marienkirche wollen die Kinder nicht mit, ihr Bedarf an Kirchen ist gedeckt – nur einen Blick riskieren sie, und verpassen dadurch den riesigen Altar von Veit Stoß. Und ich verpasse draußen den Trompeter vom Kirchturm. Überraschend folgen wenige hundert Meter entfernt noch zwei Kirchen: die Franziskaner- und die Dominikanerkirche, rechts und links vom Allerheiligenplatz. Uns beeindruckt die Zahl der Gottesdienste: bis zu 10 am Tag!

Ich muss meinen Kirchenkonsum vorsichtig dosieren, um nicht frühzeitig zu versagen.

Alfred Döblin: „Reise in Polen“

Dann erklimmen wir den Wawel, von Schatten zu Schatten springend. Wieder eine Kirche, dieses Mal die Kathedrale. Die ist spektakulär. Von Gotik bis Jugendstil ist alles vertreten. Am besten kommt der Aufstieg auf den Sigismund-Turm bei den Kindern an, auf halsbrecherisch steilen Holzstiegen. Die 11 t schwere Glocke ist Polens größte, wer sie berührt erhält einen Wunsch erfüllt. Der Wunsch der Kinder dürfte lauten: keine Kirchen mehr. Vom Turm in in den Keller, zu den polnischen Helden in der Krypta. Neben Königen ruhen hier der 2010 beim Flugzeugabsturz bei Smolensk umgekommene Präsident Lech Kaczynski und seine Frau. Ein Held kann man aus den unterschiedlichsten Gründen werden.

Auf dem Rückweg zum Hotel durchqueren wir die einst eigenständige, überwiegend von Juden bewohnte Stadt Kazimierz, heute Ausgehviertel. Synagogen an jeder Ecke (wir besuchen die Alte Synagoge mit Museum), Bars, Klezmer-Musik, Restaurants, viele junge Leute und Lebensfreude. Unser Abendessen nehmen wir in Form eines Picknicks am Weichselufer ein. Fußgänger, Radfahrer, Studierende, Kneipen – hier lässt es sich leben.

Nächste Stadt, nächstes Verkehrsmittel. Für die Fahrt nach Warszawa (Warschau) nehmen wir den Schnellzug. Nicht ganz so günstig, dafür mit einer Flasche Wasser gratis pro Person. Erfreulich ist das Zugrestaurant: es wird frisch gekocht und gebrutzelt. Dazu gibt’s frisches Fassbier.

Aus dem Hauptbahnhof heraus stehen wir in der Großstadt. Direkt vor uns Stalins Kulturpalast, umringt von Wolkenkratzern, einem riesigen Einkaufszentrum mit gewelltem Dach und 6-spurigen Boulevards. Und unserem Mercure-Hotel. Nach der Abgabe des Gepäcks laufen wir los, vorbei am Grabmal des Unbekannten Soldaten mit Ehrengarde, durch den Sächsischen Garten, passieren das Große Theater und stehen plötzlich in einer anderen Welt – aus der modernen Großstadt in die mittelalterliche Altstadt. Was für ein wahnwitziger Akt, das alles nach dem Krieg originalgetreu wieder aufzubauen.

Den nächsten Tag beginnen wir mit dem Museum der Geschichte der polnischen Juden. Döblins Reise galt den Juden, 10 % der polnischen Bevölkerung machten sie zu seiner Zeit aus, über 300.000 lebten in Warschau. Durch einen Spalt in der Fassade betreten wir den zeitgenössischen Bau und beginnen eine Zeitreise vom Mittelalter bis zum Holocaust – informativ und bewegend, auch dank eines hervorragenden Audioguides, der uns bei der Hand nimmt. Drei Stunden durchqueren wir Wohnhäuser, sind in einer Synagoge, kommen durch eine altertümliche Gasse und blicken von einer Brücke ins Ghetto, erleben Geschichte. Die Katastrophe bekommt Gesichter.

Die Erinnerung an die Geschichte der polnischen Juden zu bewahren und in Erinnerung zu rufen und Antisemitismus, Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Förderung gegenseitigen Verständnisses und Respekts entgegenzuwirken.

Museum of History of Polish Jews (https://polin.pl)

Nach dem Museum erweisen wir dem Denkmal der Ghettohelden unsere Referenz (Brandts Kniefall 1970) und laufen Richtung Neu- und Altstadt. Das Königsschloss umgehen wir am Weichselufer und setzen unseren Weg fort durch die „Krakauer Vorstadt“, eine Prachtmeile und Fußgängerzone mit Palästen, dem Hotel Bristol, in dem auch Döblin nächtigte (und später Hitler) und teuren Geschäften.

Die „Krakauer Vorstadt“ weiter nach Süden. Sonderbar das Gemisch dieser Menschen: elegante, großbürgerliche und aristokratische Geschöpfe, Studenten und Studentinnen (…). Stark das Überwiegen von grobgekleideten Kleinbürgern.

Alfred Döblin: „Reise in Polen“

Den Nachmittag verbringen wir mit vielen Warschauern im Lazienki-Park – jeden Sonntag im Sommer gibt es hier gratis Open-Air-Chopin-Konzerte, denen man bequem von der Picknickdecke lauscht.

Wir packen die Koffer und reisen weiter, mit dem Schnellzug nach Gdansk (Danzig). Die Zugstrecke führt an der Marienburg vorbei. Der Schaffner lässt Gnade vor Recht ergehen, als sich herausstellt, dass wir versehentlich für die Kinder einen falschen Tarif gebucht haben, der nur für polnische Schulkinder gilt. Die Sprachbarriere nervt. Gdansk kennen wir schon von unserer Hirsch-Reise Nordpolen und Masuren. Das war 2011. Wir finden uns schnell zurecht, so groß ist es ja nicht. immer noch sehr schön und urig. Mit zwei Töchtern fällt uns die enorme Dichte an Schmuck- und Eisgeschäften deutlich mehr auf als bei der Hirsch-Reise seinerzeit. Um noch einen letzten Kirchenbesuch schmackhaft zu machen, erklimmen wir den Turm der Marienkirche für einen herrlichen Blick auf die Stadt und bis ans Meer.

Meer ist das Stichwort – es naht die lang ersehnte Badeverlängerung in Kolebrzeg (Kolberg). Sie naht langsam, denn der Zug beeilt sich nicht. Vier Stunden waren für die 240 km vorgesehen, es werden fünf Stunden. Ein richtiger Bummelzug.

Der Zug fuhr los und fuhr mit einer dem Enkel von Reisen der Jugendzeit wohlvertrauten Geschwindigkeit, will sagen sehr langsam, so langsam, dass er, wenn er im Sommer diese Strecke fuhr, oft mit der Großmutter während der Fahrt ausstieg, um im Wald Heidelbeeren zu sammeln und wieder zurück in den rasenden Zug zu steigen.

Tomasz Rozycki: „Zwölf Stationen“

Gleichzeitig halbiert sich heute die Temperatur, von bisher 30 auf 15 Grad. Am Abend kommen wir an. Im strömenden Regen laufen wir eine halbe Stunde durch Plattenbauten zum Campingplatz. So haben wir uns das nicht vorgestellt. Wir beziehen eine klamme, unbeheizte Holzhütte. Gott sei Dank versorgt uns das örtliche Bistro mit einem deftigen und wärmenden polnischen Abendessen.

Nach drei Tagen erscheint die Sonne. Der Ort entpuppt sich als deutlich attraktiver als beim ersten Eindruck, der kilometerlange Sandstrand und die Promenade unter Bäumen sind aller Ehren wert. Wir unternehmen lange Spaziergänge, fahren mit Fahrrädern an der Küste entlang, trotzen auf einer Schiffsausfahrt den Wellen und genießen täglich ein polnisches Softeis. Die Hotels (und Sanatorien – Kolebrzeg ist ein berühmter Kurort) sind auch in der Nachsaison noch voll, doch die Menge an Spaziergängern verläuft sich auf der langen Promenade.

Gut erholt und voller Eindrücke treten wir die Rückreise an und fahren mit dem Bus über Stettin nach Berlin. Nach einer Nacht im Hirsch-Hotel Econtel bringt uns der ICE vom imposanten Hauptbahnhof zurück nach Karlsruhe.

Was haben wir von und über unsere Nachbarn gelernt? Die Sprache ist schwierig und mitunter eine große Barriere, dank freundlicher Menschen sind wir aber immer und überall zurecht gekommen. Polen hat überdurchschnittlich viele Einkaufszentren und noch mehr Kirchen. Die polnische Bevölkerung ist gespalten, zwischen liberal und national, zwischen Stadt und Land, zwischen reich und arm. Sie sind eher Einzelkämpfer und erwarten von der Politik nicht viel – die Lehre einer Geschichte als Spielball der mächtigen Nachbarn? Polnische Schnellzüge sind pünktlicher als die Deutsche Bahn, polnische Bummelzüge nicht. Polnisches Essen ist fleischlastig und einer schlanken Figur nicht förderlich. Warschau ist anders als erwartet. Und jeder Eindruck ist subjektiv.

Stefan Simonis (rechts) reist in den Sommerferien regelmäßig mit seiner ebenfalls reiselustigen Frau und seinen zumindest meistens reiselustigen Töchtern mit Bus und Bahn durch Europa. Den Rest des Jahres organisiert er als Leiter der Reiseveranstaltung mit seinem Team mit mindestens ebenso großer Begeisterung Reisen für die Hirsch-Gäste.