Sweet cherry blossom, Teil 1

New York City und New York State 2006

Dieser Text aus der Reihe „Unser Chef auf Inspektion“ handelt von einem einwöchigen Aufenthalt in New York von Palmsonntag bis Ostern 2006. Unser Chef war zuvor vier Mal in NY gewesen. Einmal mit seiner Mutti. Einmal mit seiner Frau, zur Belohnung, als diese endlich ihr Studium beendet hatte. Einmal, um viele Hotels anzusehen und noch einmal, um auf das World Trade Center zu fahren, bevor es in Schutt und Asche gelegt wurde. Und einmal, um mit Paloma Picasso und ihrer Mutter Francoise Gilot im Trustees Dining Room des Metropolitan Museums zu Mittag zu essen – allerdings an unterschiedlichen Tischen.

Was macht die fünfte Reise erzählenswerter als die anderen? Sie war eine Reise für „Fortgeschrittene“ und führte unseren Chef und seine Frau auf wunderschöne Ausflüge in den Bundesstaat New York, den man zuvor noch nicht kennengelernt hatte. Dort ist Amerika still, weit und schön. Sie erlebten aber auch ein Amerika, das sich nach dem 11. September 2001 verändert hatte. New York – ihr Standort – hatte sich z.B. zu einem inneramerikanischen Urlaubsziel gewandelt. Tausende Familien reisten dorthin, um Ground Zero anzusehen, zu shoppen, den Central Park zu belagern und abends ein Musical anzusehen. Es war eine kurze Reise mit viel Abwechslung. Zur Minireisegruppe gehörte dieses Mal auch Freundin Pina.

1.Reisetag – Ankunft

Pina und ich blieben vor dem „Skyline Hotel“ einfach im Auto sitzen. Unser Chef wollte das Einchecken im Hotel schnell allein erledigen. Vom Transatlantikflug benebelt, hatten wir Mädchen somit eine Dreiviertelstunde Zeit, das lebendige Treiben auf dem Hotelvorplatz zu beäugen. Die Jungs vom hoteleigenen Parkhaus arbeiteten auf Hochtouren, um die Gästeautos in der Tiefgarage unterzubringen. Der Ansturm vor dem Hotel ließ ahnen, was in der vorösterlichen Woche in NY los sein würde – die Stadt würde aus allen Nähten platzen! Wir harrten im Leihwagen der Rückkunft unseres Chefs, der mit der sorgfältig vorbereiteten Reservierung (Reiseveranstalter, der hier schon seit Jahren Gruppen unterbringt, barrierefreies Zimmer etc.) mehr Mühe hatte als erwartet. Das Hotel war voll, das Servicepersonal matt und maximal belastet, alle angereisten Amerikaner entschlossen, jetzt ihren kostbaren Urlaub anzutreten, wenn man ihnen nur sagt, welchen Aufzug sie benutzen sollen, um auf Etage zu kommen. Pina und ich sahen derweil zu, wie zwei Afroamerikanerinnen einen Kofferraum leer räumten. Sie entnahmen ihm Tüten um Tüten mit Knabberzeug, Softdrinks, Bier. Es war das Material für eine ausgelassene Damenparty, die in der Nacht in unserem Nachbarzimmer stattfinden sollte.

Langer Rede kurzer Sinn. Der Auftakt zu einer eigentlich wunderschönen Reise geriet enttäuschend. Der Chef und seine Frau bezogen das „barrierefreie Zimmer“ des Hauses. Es war schäbig und mies. Wie konnten die Hirschgäste diesen Standard nur ohne Murren hinnehmen? Für diese Nacht ließ sich nichts mehr ändern. Vor dem Fenster lärmte der Verkehr und in Nachbarzimmer lief sich die Damenparty warm. Über Nacht wollten noch ein paar Jungs hinzustoßen, doch nicht alle erhielten Einlass. Gegen 3 Uhr war unser Chef entschlossen, höflich um etwas mehr Ruhe zu bitten, machte aber nach einem Blick durch den Türspion unverrichteter Dinge wieder kehrt. Er war sicher, draußen den muskelbepackten Rücken eines schlecht gelaunten „50Cent“ (schwarzer Kultrapper) gesehen zu haben, der den schmalen Flur zwischen den beiden Zimmertüren füllte.

2. Reisetag – Am Hudson River

Als unser Chef am nächsten Morgen zum Frühstück ging, war die Party gegenüber noch in vollem Gang. Zum Glück hatte Pina auf einer oberen Etage in einem der schönen, großzügigen, modernen Zimmer übernachtet, die sonst auch die Hirsch Gäste nutzen (… und in die wir morgen wechseln würden.) Beim Frühstück gegen 9:30 Uhr war sich unser Chef sicher, dass das Frühstückspersonal Elan, Aufmerksamkeit und seine geballte Freundlichkeit bestimmt schon bei den Reisegruppen losgeworden war, die das Hotel früher verlassen haben müssen. An den drei Karlsruhern hatte es kein Interesse.

Draußen war Sonntag. Die Sonne strahlte über allem, und die blühenden Bäume in den Straßen NYs jubilierten. Die Frau unseres Chefs hat in der Stadt eine Cousine, sie heißt Liane. Man freute sich aufeinander und hatte für die kommende Woche Pläne geschmiedet. Heute Vormittag machte man sich auf den Weg, um Liane in der 75. Straße zu einem Ausflug abzuholen. Beth und Elisabeth, zwei Freundinnen im eigenen Wagen, waren mit von der Partie. Ziel war das Städtchen Beacon, ca. 150 km nördlich im Bundesstaat NY im Hudson River Valley gelegen. Das klare, scharfe noch winterliche Licht strahlte weithin. Über uns spannte sich der große Himmel Amerikas, der das Herz vor Freude hüpfen lässt. Wir waren glücklich und das Auto rollte gemächlich dahin.

Der Hudson River ist nur 493 km lang. Er entspringt im Bundesstaat NY am Mount Mary, nimmt weiter südlich die Wasser des Mowhak Rivers auf und mündet in NY als breiter Strom in den Atlantik. Fast die Hälfte des Flusses ist den Gezeiten des Meeres unterlegen, sodass sich der Tiedenhub noch 275 km flussaufwärts bemerkbar macht. Die Ureinwohner, die Mahican Indianer, nannten ihn deshalb auch „Muh-he-kun-ne-tuk“, „der in zwei Richtungen fließt“.

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Die einschüchternde Schönheit des Hudson River Valleys wurde von Malern des 19. Jhs festgehalten und ist in den oft großformatigen Ölgemälden der Hudson River School überliefert. Hat man das Tal bereist, wächst das Verständnis für die pathetisch verklärende Geste der Landschaftsgemälde eines Thomas Cole, der Chefmaler der Hudson River School war. Zu seinen Charakteristika gehören weite Horizonte, herausgehobene Betrachterstandpunkte, goldenes Licht, Menschen, die nur als winzige Staffagefiguren auftauchen. Seine Bildsprache wurde zum Topos einer ganzen Malergeneration. Im American Wing des Metropolitan Museums in New York kann man die Werke der Hudson River School studieren.

Für die amerikanische nationale Identität ist der Moment überwältigender Naturansicht eine Konstante der Selbstversicherung. Sie reicht von den Arbeiten der Hudson River School über die Einrichtung von mühelos mit dem PKW erreichbaren Aussichtsplattformen in den Nationalparks bis zur Werbung der Firma Kodak. Über Jahrzehnte leuchtete sie fast fußballfeldgroß in der riesigen Eingangshalle der Grand Central Station in NY täglich über abertausenden Köpfen von Berufspendlern. Die potentielle Kundschaft wurde gern vor amerikanischer Naturkulisse gezeigt.

Die kleine Reisegruppe um unseren Chef war also mittendrin im Vergnügen und neugierig gestimmt, was sie im Örtchen Beacon und dem seit seiner Wiedereröffnung 2003 viel beachteten Dia Art Museum erwarten würde.

Am Ufer des Hudson River gelegen, hat das verträumte Städtchen gerade einmal 14.000 Einwohner. Auf dem heutigen Stadtgebiet lagen zwei Dörfer, die zu den ersten des Bundesstaates gehörten. Im 18. Jh. entstanden die ersten Getreidemühlen, im 19. Jh. wuchsen Textil-, Ziegel- und Papierindustrie und die Produktion von Hüten! Mit dem Rückzug der Industrie in den 1970er Jahren fiel Beacon in die Bedeutungslosigkeit. Es war das DIA Art Museum, das zwanzig Jahre später, eingebunden in das Konzept Kultur- und Naturtourismus im Hudson River Tal, eine neue Seite für die Stadt aufschlug.

Vor der ehemaligen, fast 28.000 m² großen Papierfabrikhalle wurde die kleine Ausflugsgruppe um unseren Chef vollständig. Dort war ein Treffen mit Lianes (Stief-)Tochter Taina, deren Mann Jonny und Baby Jack geplant, um das  DIA Art Museum zu besichtigen. Nachdem wir Baby Jack ausgiebig bewundert hatten, enterten wir das weiträumige Museum. Respekt nötigt einem die Sammlung von Kunst der 1960er Jahre bis heute ab. Zwischen raumgreifenden Installationen der namhaftesten Künstler, wie Joseph Beuys, Louis Bourgois, Walter de Maria, John Chamberlain, Richard Serra, Sol de Witt, um nur einige zu nennen, verlor sich unsere Gruppe. Jeder lustwandelte wie er wollte. Das DIA ist ein Ort, an dem sich Gedanken und Gefühle ausbreiten können. Geraume Zeit später fanden wir uns draußen vor dem Gebäude auf der Besucherterrasse wieder zusammen und ließen uns von der Sonne wärmen. Gern erinnere ich mich an diesen Augenblick. Wir kannten uns ja untereinander zum großen Teil nicht, aber es herrschte eine freundliche und entspannte Atmosphäre. Zwei Fotos an denen ich besonders hänge, haben diesen glücklichen Moment eingefangen.

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Ein Mittagessen in der „Piggy Bar“, einer ehemaligen Bank, deren eindrucksvoller Tresor hinter der Theke für alle gut einsehbar offen stand, und ein kleiner Spaziergang durch Beacon rundeten den schönen Tag ab. Auf der Rückfahrt nach Manhattan gondelten wir so weit es ging direkt am Fluss entlang.

Fortsetzung folgt …