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bodrum

Ein falscher Reiseführer

In Kleinasien befinden sich die größten und vollständigsten griechischen Tempel und Tempelanlagen, die zu den touristischen „Musts“ zählen. Ephesos, Milet und Didyma schlagen den Besucher in ihren Bann. (An der Erforschung und Rekonstruktion z.B. der Celsus Bibliothek in Ephesos war das Institut für Baugeschichte der Universität Karlsruhe maßgeblich beteiligt.) Anders als die Grabungshügel von Troja oder das spektakulär gelegene Plateau, auf dem sich in der Antike der Pergamon-Altar befand. Sie verlangen dem Touristen mehr Phantasie ab, da fast keine Überreste vorhanden sind. Bodrum, das antike Halikarnassos, war das südlichste Ziel unseres Chefs.

Eines Nachmittags wollten sich unser Chef und seine Frau erfrischen und an einer einsamen Bucht die Füße ins Wasser tauchen. Richtig erfolgreich war die Suche nach einem romantischen Plätzchen nicht, denn an Stränden an denen nichts los ist, ist meistens auch ein Haken – damals waren es Teerreste. Bis auf eine Familie, von der sich ein etwa 12-jähriger Junge näher herantraute, waren keine Menschen weit und breit. Nach dem kurzen Badevergnügen ging der Chef wieder zurück zum Auto und erlebte eine böse Überraschung: Das Fenster der rückwärtigen Tür war mit einem großen Stein eingeworfen worden. Der Stein und Hunderte kleiner Glassplitter lagen auf der Rückbank und im Auto verteilt. Ob etwas entwendet wurde, ließ sich nicht gleich ausmachen.

Um den Einbruch anzuzeigen, suchte unser Chef die nächstgelegene Polizeistation auf. In diesem Fall eine Militärpolizeistation – die nichts mit einer freundlichen Amtstube am Jungfernstieg zu tun hat. Das aufgebrochene Auto wurde gut sichtbar mitten im Hof geparkt und man betrat das eingeschossige Gebäude. Die Augen brauchten einen Moment, um sich vom gleißenden Sonnenlicht an das Licht im Eingangsraum zu gewöhnen. Er war groß, quadratisch und niedrig. Aus den Augenwinkeln nahmen wir etwas wahr, dessen Schrecken wir uns erst beim Hinausgehen versichern würden. Wir wurden in die Amtsstube des Dienststellenleiters geführt, die linkerhand vom Eingang lag. Sie war mindestens genauso groß wie der Eingangsraum. Die gefühlten 10 Meter, die wir bis zum Schreibtisch des Dienststellenleiters zurücklegen mussten, gaben einen kühlen Moment Zeit, sich klar zu werden, wo man sich hier befand und in welcher Situation.

Noch nach Jahren bin ich mir nicht sicher, ob ich eine Filmszene aus Hollywood in die Erinnerung montiere, oder ob es sich wirklich so abspielte: Der Offizier in Uniform saß hinter seinem Schreibtisch und beendete gerade sein Mittagessen. Mit einer weißen Serviette wischte er sich den Mund ab, erhob sich andeutungsweise von seinem Stuhl und wies uns mit einer nicht unhöflichen Geste an, auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Der Dielenboden roch nach heißem Staub, an der Wand ein Konterfei des Staatsgründers

Kemal Attatürk, dem das Militär noch heute tief verpflichtet ist. In ein paar englischen Sätzen gaben wir eine Anzeige gegen Unbekannt auf. Der in Ultrazeitlupe ablaufende Spuk war schnell vorbei. Beim Hinausgehen erhielten wir dann noch den letzten Kick, der uns eilends die Militärstation verlassen ließ.

Was wir beim Eintreten nur schemenhaft aus den Augenwinkeln gesehen hatten, lag nun vis à vis vor unseren Augen: In der Ecke befand sich ein gemauerter Zwinger mit Gitterverschlag, ca. 120 x 120 x 200 cm groß. Darin warteten nicht etwa die Polizeihunde ungeduldig auf ihren nächsten Einsatz. Vielmehr kauerten darin sechs erwachsene Männer. Da man in dem niedrigen Verschlag nicht stehen kann, saßen sie dort mit angezogenen Beinen auf dem Boden und starrten uns mit großen Augen an. Mitten im Raum bewaffnete Soldaten. Stumm verließen wir den Ort des Schreckens und fuhren zum Hotel in Bodrum zurück.

Als unser Chef an der Rezeption nach einem Staubsauger fragte und der Rezeptionist hörte, warum ein solcher benötigt würde, war ihm das sehr, sehr peinlich. Dann wurde er aktiv, beorderte einen jungen Hotelangestellten, sich mit dem Staubsauger an die Reinigung des Wagens zu machen und entschuldigte sich hundertmal, dass unserem Chef so etwas hier in der Türkei passiert sei. Unser Chef und seine Frau durften keinen Finger rühren, um beim Saubermachen mitzuwirken.

Nachdem das Auto picobello ausgesaugt war, blieb nur noch das kleine Problem übrig: das klaffende Loch im Fond zu verschließen, was unser Chef umgehend in Angriff nahm. Der Rezeptionist empfahl, an den Stadtrand von Bodrum zu fahren, dort seien Handwerker angesiedelt. Am Rand der Ausfallstraße breitete sich eine sandige Piste aus, auf der sich improvisierte Bretterbuden aneinander reihten. Es herrschte emsiges Treiben. Unser Chef fuhr an den Büdchen entlang und hielt bald vor dem Laden eines Schreiners an. Beim Blick auf die hintere Tür des PKW war dem schnell klar, was zu tun ist. Der schnauzbärtige, nicht mehr ganz junge Handwerker nahm Maß und suchte in seinem Bestand nach einer Sperrholzplatte. Er arbeitete allein und schweigend. Man hatte den Eindruck, dass keine Viertelstunde verstrich, bis das fehlende BMW-Fenster durch eine Holzplatte ersetzt war.

Beim Bezahlen folgte die vierte und vielleicht eindrücklichste Lektion über das türkische Wesen: Als unser Chef die Geldbörse herausholte, schüttelte der Handwerker nur mit dem Kopf. Der Chef versuchte ein Einstiegsgebot abzugeben und zog einen deutschen Geldschein heraus, woraufhin die Gesten der Abwehr noch deutlicher wurden. Doch unser Chef ließ nicht locker. Nach etwas hin und her nahm der Handwerker dem Chef das Papiergeld doch aus der Hand. Der spuckte symbolisch darauf, bückte sich zu Boden und zog den Schein im Staub hin und her. Dann hatten auch wir begriffen. Ein kräftiger Händedruck und ein Schulterklopfen waren genug – alles andere Ehrensache!

Der geneigte Leser fragt sich an diesem Punkt nur noch, was es mit dem im Titel erwähnten „falschen Reiseführer“ auf sich hat, und ob man ihm dieses Detail nach all der schonungslosen Offenheit am Ende doch vorenthalten möchte? Mitnichten: Das Erlebnis bei der türkischen Militärpolizei saß tief. Als man an einem der folgenden Tage irgendwo auf einer einsamen Landstraße wieder zur aktuellsten Reiseliteratur griff, die in Deutschland damals über die Türkei zu kriegen war, fiel der Blick der Beifahrerin zum ersten Mal auf einen Textblock in einem Kasten auf den Introseiten: Da in diesem Buch offen über das „Kurden-Problem“ berichtet wurde, riet der Herausgeber, das dickleibige Konvolut nicht mit in die Türkei zu nehmen, um nicht nicht selbst ein Problem zu bekommen!

Der Chef und seine Frau befanden sich zu jenem Zeitpunkt auf einer Landstraße, die rechts und links von einem tiefen Straßengraben begleitet wurde. Sonst weit und breit nur abgeerntete Felder. Nach einem vergewissernden Blick in alle Richtungen – vor allem nach hinten – flog der falsche Reiseführer in hohem Bogen aus dem Autofenster. Denn in Schwierigkeiten wollte man in der Türkei nicht mehr geraten!

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