In schmaler Spur: Panorama-Reisen in der Schweiz

Unterwegs mit dem „langsamsten Schnellzug der Welt“

Glacier-Express und Bernina-Express ‒ Namen mit magischem Klang nicht nur für Eisenbahnfans. Das höchstgelegene Bahnnetz Europas, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, verheißt unvergessliche Genussreisen ins Herz der Schweizer Alpen. Einfach zurücklehnen und staunen!
bernina2

Die Schweiz ist Bahnland. „Kleine Rote“ wird die Rhätische Bahn genannt, die mit abenteuerlicher Streckenführung seit 100 Jahren die Berge Graubündens meistert. Ausgerechnet einem Niederländer verdankt sie ihr Entstehen: Während die Gotthardbahn seit 1882 verkehrte, waren auf den Bündner Alpenpässen noch Säumer mit Zugtieren unterwegs. Der Kaufmann Jan Holsboer, der mit seiner lungenkranken Frau noch höchst umständlich nach Davos anreisen musste, bewarb sich kurzerhand um die Konzession für eine Bahnlinie. 1890 war die Strecke von Landquart nach Davos fertig und wurde als „Rhätische Bahn“ stetig erweitert. 1914 erschloss das 375 Kilometer lange Schmalspurnetz fast den gesamten Kanton. Unglaubliche 119 Tunnel, 494 Brücken und Viadukte zählt das Netz der „Kleinen Roten“. Wie wäre es mit einer kleinen Probefahrt?

Mit dem Bernina-Express in den Süden

Die Strecke von Tiefencastel nach Tirano war technisch so wegweisend, dass die UNESCO sie 2008 zum Weltkulturerbe adelte. Bis hoch ins Dach ziehen sich die Fenster der Panoramawagen; geruhsam zieht ganz Graubünden an uns vorbei: kleine Dörfer, sattgrüne Wiesen und Wälder, darüber die gewaltigen Felsriesen. Dann der erste Höhepunkt: Wir überqueren den Landwasserviadukt, der in schwindelerregender Höhe das Albulatal überspannt. Es folgt die legendäre Albulastrecke. Um die 416 Höhenmeter zwischen Bergün bis Preda durch das enge, steile Tal zu überwinden, fanden die Ingenieure eine geniale Lösung: Sie verlängerten die 6 Kilometer Distanz auf das Doppelte und verlegten Serpentinen in den Berg. So fährt der Zug in einen Tunnel hinein, schraubt sich im Berg höher und verlässt ihn in entgegengesetzter Richtung – ganz schön verwirrend für die Passagiere! Im Winter bringt der Zug hier Schlittenfahrer hinauf, dann wird die Passstraße zur gigantischen „Schlittelbahn“. Wir tauchen nun in den Albulatunnel ein, 1.923 Meter hoch und damit der höchste Eisenbahntunnel der Alpen. Heraus kommen wir im sonnigen Oberengadin.glacier1
glacier2_Andermatt_Teufelsbrücke

Nach Pontresina erwartet uns ein Vorgeschmack auf die Bernina-Gletscherwelt: der Morteratsch-Gletscher, der sich seit Gründerzeit der Bahnlinie allerdings um zwei Kilometer zurückgezogen hat. Unser roter Zug erklimmt nun den Berninapass ganz ohne Zahnräder! Beim alten Hospiz auf 2.253 Metern Höhe liegt das Gletscherpanorama offen vor uns: der 4000er Piz Bernina, Piz Palü, Alpweiden. Der schwarze Lej Nair und der weiße Lago Bianco markieren Wasserscheide und Sprachgrenze. Der Bernina-Express fährt auch im Winter, wenn der Schnee hier meterhoch liegt. Die Schneegalerien begleiten uns. Ob wir anhalten müssen, weil der Kondukteur verirrte Rinder hinaustreiben muss? Schon geht’s abwärts: 1.230 Meter Höhenunterschied auf 11 Kilometern ‒ Serpentinen mit 7 Prozent Gefälle machen es möglich: Eine steilere Bahnlinie gibt es nirgends! Mit kreischenden Rädern windet sich unser Zug in engen Kurven hinab ins Puschlav. In Poschiavo mit seinen schmucken Häusern spüren wir schon einen Hauch Italien. Aufgepasst! Wir vollführen im offenen Kehrviadukt von Brusio eine Schleife von 360 Gad! Im italienischen Tirano ist Endstation. Der Hauptort des Veltlins ist nur einen Steinwurf von der Schweizer Grenze entfernt, und hat doch mediterranes Flair. Wir suchen uns erstmal eine schöne Trattoria, genießen einen leicht herben Veltliner Wein zu Bündnerfleisch und Speck.

bernina3

Am Bernina-Pass

bernina1

Zurück nach Davos geht es mit dem Bus. Die Sonnenstadt im Hochgebirge ist attraktiver Standort der Bernina-Reise. Das Kirchner-Museum und ein attraktives Wanderrevier sorgen für Abwechslung; zu den bequemen Spazierwegen gehört der Thomas-Mann-Weg vom ehemaligen Sanatorium über die Hohe Promenade hinauf zur Schatzalp. Ausflüge führen ins wunderbar restaurierte Dorf Guarda mit fantasievollen Sgraffito-Fassaden und zum Schloss Tarasp hoch über dem Inntal, das der Odol-Produzent August Lingner im 19. Jahrhundert aufwändig restaurieren ließ.

davos1

Blick auf Davos

CIMG0538

Sgraffito an Engadiner Haus

Vom Engadin ins Wallis mit dem Glacier-Express

Noch berühmter als der Bernina-Express ist sein „großer Bruder“: Der Glacier-Express schafft die 290 Kilometer vom Oberengadin bis Zermatt in 7,5 Stunden und überwindet 2500 Höhenmeter. Start ist im legendären St. Moritz, „Top of the World“, mit seinen Luxushotels, dem schon historischen Eiskanal und dem See, auf dem im Winter Polo gespielt wird. Der liegt nun friedlich da, gerahmt von Dreitausendern, in einer Bilderbuchlandschaft, wie Giovanni Segantini sie malte.

st.moritz

St. Moritz

Die Strecke folgt dem Inn, in den Dörfern sieht man Engadiner Häuser mit ihrem dekorativen Putz. Wir passieren ‒ wie der Bernina-Express ‒ den spektakulären „Albulazirkus“, dann das Burgenland des Domleschg. Nach der Kantonshauptstadt Chur wird es abenteuerlich: Es geht durch die Rheinschlucht, den „Grand Canyon der Schweiz“! Gestaut durch den Flimser Bergsturz hat sich der Vorderrhein in vielen Jahrtausenden sein Bett durch die Gesteinsmassen gegraben, 300 Meter tief, von hellen Felszacken gerahmt – ein ideales Wildwasserrevier. Burgen und Schlösser säumen die Strecke. Ab Kloster Disentis ist eine Zahnstange zur Verstärkung nötig, um den Oberalbpass zu erklimmen. In Sedrun sehen wir den Zugang zur Großbaustelle des Gotthardbasistunnels 800 Meter tief im Berg. Ob die „Porta Alpina“, ein unterirdischer Bahnhof mit Lift zum Alpenblick je realisiert wird, ist unklar. Große Wartehallen wurden jedenfalls aus dem Stollen gebrochen. Am Oberalppass sind wir der Rheinquelle ganz nah ‒ und reiben uns verwundert die Augen: Ein holländischer Leuchtturm weist auf die 1234 Kilometer entfernte Mündung des Rheins in die Nordsee hin.

Nun geht es hinunter nach Andermatt. Im ehemaligen Armeestützpunkt will ein ägyptischer Milliardär das größte Luxusresort der Alpen errichten: Von den Hotels und Apartmenthäusern steht bisher noch wenig. Der Furkabasistunnel bringt uns ins Goms, wo wir der jungen Rhône folgen, einem munteren Gebirgsbach, der hier „Rotten“ heißt. In Brig im Oberwallis erwartet uns der Hirsch-Bus und bringt uns nach Saas Fee. Die eigentliche Endstation Zermatt mit dem berühmten Matterhorn-Blick heben wir uns für morgen auf! Das autofreie Saas Fee am Fuß des Gletschers ist verglichen damit beschaulich. In Zermatt spielen wir „Gipfelstürmer“ in der Gornergratbahn, die mittels Zahnstangen auf über 3.000 Höhenmeter hinaufklettert. „Ohs“ und „Ahs“ begleiten die Fahrt und großes Hallo, wenn einer ein Murmeltier erspäht. Oben ein Panorama von fast 30 Viertausendern: Monte-Rosa, Castor und Pollux, das majestätische Matterhorn ‒ Himmel, Berge und Eis. Grandios!matterhorn

Reise in die Pionierzeit des Tourismus

Pfarrer Johann Imseng aus Saas Fee sauste 1849 als erster Skifahrer auf Holzlatten durch die Berge und beherbergte als Hotelier Urlauber. In den 1860er-Jahren eroberten die Engländer die Alpen, prächtige Hotelbauten wie das Kulm im St. Moritz zeugen davon. Von Zermatt aus bestieg Edward Whymper 1865 das Matterhorn. Um 1900 zog es Patienten wegen des trockenen Hochgebirgsklimas auf den „Zauberberg“ Davos. Heute sucht man beim Sport den ultimativen Kick: Snowboarden, Rafting, Paragliding. Und das genaue Gegenteil: Entschleunigung beim Wandern, ruhiges Genießen in den nostalgischen Panoramazügen!