Carneval in Venedig
„Auf diese Stunde habe ich wochenlang gewartet, auf diese Stille zwischen Stein und Wasser, auf diese milde satte Luft, auf dieses milde schüchterne Heimatgefühl der Weltferne und des Ausruhens. Das ist Venedig.“ (Herrmann Hesse, Venezianisches Notizbüchlein)
Der Hirsch-Bus fährt uns nach Fusina, hässliches Industriegebiet am Rand der Lagune. Wir besteigen mit unserem Gepäck das Boot zum Zattere. Eine knappe halbe Stunde später laufen wir die Gasse von der Anlegestelle hoch zum „Centro Culturale Don Orione Artigianelli“ und beziehen unser Zimmer.
„Man träumt von Venedig, bevor man da ist. Und ohne es zu wissen, ganz plötzlich, ist man da im Traume.“
André Suarès, Die Fahrten des Condottiere. Eine italienische Reise
Ein abendlicher Bummel durch die ruhigen Straßen lässt die Pracht erahnen. Die Tagestouristen verlassen die Stadt, die Stadt gehört den Venezianern, und wir dürfen ihre Gäste sein.
„Im verräterischen Sonnenlicht sehen wir Venedig, verfallen, verarmt und ohne Handel. Aber bei Mondlicht hüllen die vierzehn Jahrhunderte ihrer Größe die Stadt in einen Glorienschein, und noch einmal ist sie die fürstlichste unter den Nationen der Erde.“
Marc Twain, Bummel durch Europa
An den folgenden drei Tagen erkunden wir die Stadt – vormittags an die Hand genommen und mit (Kunst)geschichte befüllt von Reiseleiter Michael Böttcher, nachmittags auf eigene Faust durch die Gassen flanierend, mit Sonnenschein, Gelato und Aperol Spritz. Der Dogenpalast lässt uns die einstige Macht und Ohnmacht der Dogen erahnen, und wir blicken hinter die Kulissen der republikanischen Politik und des Handels. Die goldene Basilika di San Marco imponiert uns mit ihrer Pracht und ihrer Geschäftstüchtigkeit – gleich drei Mal werden wir im Inneren zur Kasse gebeten. In der Frari-Kirche und der Bruderschaft San Rocco bestaunen wir die ergreifenden Kunstwerke von Tizian und Tintoretto, und im einstigen Ghetto wird die Geschichte lebendig.
Dazwischen immer wieder Pausen, Wechsel zwischen Menschenmassen und stillen Gassen, phantasievolle Kostüme, malerischste Ausblicke, Vaporettofahrten. Was für ein Schauspiel!
„In der Szene, die Dich empfängt (…) liegt eine farbenprächtige Geschmacklosigkeit, eine Art Dekadenz, ein beinahe schwüler, theatralischer Pomp – es ist belebend, erweckt in Dir aber auch das Verlangen loszulachen. Der Bühnenaufbau ist große Oper, doch die Handlung ist reines Variété. Wenn Du die Uferstraße verlässt und in eine der tristen Steinstraßen abwanderst, ist es fast, als würde ein ratternder Filmprojektor abgeschaltet – innerhalb eines Augenblicks herrschen Stille, Solidität und jahrhundertealte Serenität. Nur die Gerüche scheinen Dir nachzuwehen. Glückseligkeit.“
Robert Dessaix, Briefe aus der Nacht
Einer der Höhepunkte ist der Besuch eines Remer, eines Ruderbauers, in seiner Werkstatt, und, man muss es sagen, die Fahrt in der berühmten Gondel. Klischeebelastet und hochpreisig hätte dies wohl niemand von uns aus eigenem Antrieb unternommen. Aber es ist grandios, abseits des Canal Grande durch die Kanäle zu gleiten und dem Gondoliere bei seiner Arbeit zuzuschauen. Die berühmte Stille von Venedig, in dieser Stadt ohne Autos: in diesem Moment können wir sie erahnen.
„Wunderstadt, verfallene; mit nächtlicher Schönheit am Meer, im Leuchten zerbröckelnder Trauer; Hochzeit von Schwermut und Anmut.“
Alfred Kerr: Erlebtes. Reisen in die Welt
Viel zu schnell ist der Aufenthalt vorbei (was die Sehnsucht nach Schönheit betrifft – nicht was den Geldbeutel betrifft). Ein letztes spartanisches Frühstück in unserem Kloster, ein letzter Sonnenaufgang über dem Giudecca-Kanal, eine letzte Bootsfahrt hinüber nach Fusina. Die Reise war kurz, von den Eindrücken werden wir noch lange zehren.
„Venedig kann es nicht geben, denn man kann keine Stadt im Wasser bauen. Aber Venedig gibt es doch. Venedig ist das Trugbild der Realität, aber dadurch, dass die Täuschung echt wird, bringt Venedig die Wirklichkeit hervor. Venedig ist die Stadt der Dinge an sich. Venedig ist die Stadt, die es gibt, weil es sie nicht gibt. Venedig war das, was die Welt als letzte Blüte der Schönheit hervorgebracht hat.“
Herbert Rosendorfer, Venedig