100 Jahre Tunisreise

Vor 100 Jahren, im April 1914, brachen die drei Maler August Macke, Paul Klee und Louis Moilliet zu ihrer legendären „Tunisreise“ auf. Fasziniert vom Orient, überwältigt von Licht und Farben, führte diese Begegnung zu eine Erneuerung ihrer Kunst. In Hunderten von Zeichnungen und Aquarellen hielten sie bunte Straßenszenen von Tunis, Sidi Bou Said und Kairouan fest. 2014 folgen zahlreiche Ausstellungen und Reisen den Spuren der Maler. Wir waren im Januar dort, um die Hirsch Studienreise Tunesien mit vorzubereiten.

Sibi Bou Said

Sibi Bou Said

Tunesien-Urlaub im Januar? „Wie warm ist es denn da?“, fragte uns der Beamte an er Passkontrolle in Frankfurt. „Kann man da baden?“ – Nein. Zu kalt. Unser Ziel sind ja auch nicht die Hotelburgen an Tunesiens Küste …

Auftakt am Cap Carthage

Am Flughafen Tunis-Carthage wird unsere kleine, 4-köpfige Reisegruppe mit großem Namensschild empfangen: Die Autovermieter sind pünktlich zur Stelle – mit einem Kleinwagen, in den wir mit Müh und Not all unser Gepäck und schließlich uns selbst hineinstopfen. „Reiseleiter“ Christoph ist ein bisschen ungehalten, da wir so viel dabei haben, ganz wie „echte Touristen“… Er hat die Route ausgearbeitet und wir folgen gespannt. Es ist ein Feiertag, Mohammeds Geburtstag und allgemeiner Ausflugstag. So nutzen auch wir den Nachmittag gleich für einen Absteccher ins nahe Sidi Bou Said. Wirklich idyllisch, die weißen Häuser mit kunstvollen blauen Türen, die ansteigenden Gässchen und die Aussicht aufs Meer. Keine Touristen, aber jede Menge tunesische Familien auf Sonntagsspaziergang. Es regnet leicht. Und da stehen wir vor dem „Blick auf die Moschee“, Mackes berühmtes Aquarell vom Café des Nattes mit der weißen Treppe, überragt vom Minarett. Das Motiv ist noch ganz da! Natürlich schauen wir hinein, an der Wand tatsächlich ein paar alte Zeitungsberichte über die Maler und viele junge Leute mit Wasserpfeifen.

Bei der Fahrt ins Zentrum von Tunis, macht Wolfgang, unser „Chauffeur“, Bekanntschaft mit afrikanischen Verkehrsverhältnissen: Wer zögert, verliert! Christoph dirigiert ihn sicher in Richtung Medina – klar, wir wohnen mittendrin! Ich erschrecke ein wenig vor dem allgegenwärtigen Militär und den Stacheldraht-Absperrungen auf dem Boulevard Bourguiba: Morgen ist der 3. Jahrestag der Revolution, man scheint sich zu wappnen … Ungeheuerlich sind die Müllberge überall: Wir erfahren, dass seit einigen Tagen die Müllabfuhr streikt – ist alles möglich seit dem arabischen Frühling. Märchenhafter Orient? Der zeigt sich uns erst in unserem zauberhaften Quartier. Nachdem wir mit polternden Rollkoffern in der Dunkelheit durch sämtliche Gassen der Medina gezogen haben, werden wir in der „Chambre bleue“ sehr herzlich von unserer Privatvermieterin empfangen. Herrliche orientalisch gekachelte Räume, Wolfgang und ich schlafen im ehemaligen Pferdestall mit hohem Gewölbe und Säule in der Mitte. Unser kleiner Sohn Jan, den wir daheim bei seiner Oma anrufen, ist beeindruckt. Gleich um die Ecke genießen wir in einem viel zu feinen Lokal ein fürstliches Dîner, uns zu Ehren spielt der Sitar-Spieler „Freude schöner Götterfunken“ und die deutsche Nationalhymne!

Römisches Landleben und Hannibals Hafen

Der Muezzin ist gewöhnungsbedürftig. In unserem Altstadtquartier hört man gleich vier davon: Sobald einer aufhört, setzt der nächste an, und das schon morgens um 4 Uhr. Leckeres tunesisches Frühstück begleitet von politischen Gesprächen. Hubschrauber kreisen an diesem „Tag der Revolution“ über der Stadt, doch es wird alles ruhig bleiben – immerhin ist man ja gerade dabei, über eine recht fortschrittliche Verfassung abzustimmen. Die meisten Tunesier, denen wir begegnen, sind sehr modern eingestellt.

Wir widmen uns heute der antiken Vergangenheit: Das Bardo-Museum gilt zu Recht als das bedeutendste archäologische Museum Nordafrikas und besitzt so viele römische Mosaiken, dass man die Besucher sogar drüberlaufen lässt. Die Postkartenverkäufer vorm Eingang freuen sich, dass endlich mal Touristen kommen und empfangen mich mit „Monika, Claudia, heute alles billiga!“ Nachdem wir punische Altäre, das berühmte Vergil-Porträt und hunderte von Mosaiken bewundert haben – viele zeigen Szenen des Landlebens in dieser so wichtigen „Kornkammer Roms“ – wärmen wir uns bei Minztee mit Pinienkernen im Café gegenüber auf (ja, es ist kühl hier!). Dann fahren wir in den Villenvorort Karthago, in dem die weit verstreuten Ruinen der einstigen Seemacht gar nicht so einfach zu finden sind. Leider kann man von den eindrucksvollen Überresten der Antoninus-Thermen nicht mehr bis ans Meer gehen. Die Promenade ist militärisches Sperrgebiet, gleich nebenan residierte Diktator Ben Ali… Unzählige Altäre, viele mit den Symbolen der Göttin Tanit, häufen sich an der punischen Kultstätte Tophet. Hier sollen die dem grausigen Gott Baal geopferten Kinder bestattet worden sein, wie es Flaubert in „Salammbô“ beschreibt. Zu Abschluss schöne Abendstimmung in Hannibals ringförmigem Kriegshafen. Und denkwürdiges Abendessen in einem sehr typischen, lauten und rauchigen tunesischen Künstlerlokal.

Karthago mit Katze

Karthago mit Katze

Tunesischer Wein und Piratennest

Wir erkunden das Gassengewirr der Souks rund um die Zitouna-Moschee. Auf Schritt und Tritt spricht uns jemand an, der touristischen Nippes verkaufen will. Daneben gibt es unzählige Hochzeitsausstatter, Filzkappenwerkstätten und ein großes Angebot von Plateauschuhen und Nietenhandtaschen, die auch die vollverschleierten Tunesierinnen offenbar gern tragen. Im Umkreis der Porte de France suchen wir das ehemalige „Grand Hotel de France“, in dem vor 100 Jahren August Macke abstieg. Das konnte er sich dank der Finanzspritze seines Onkels leisten, während seine Gefährten beim Schweizer Arzt Dr. Jäggi unterkamen. In einer Seitenstraße werden wir fündig. Eine feine Adresse sieht anders aus! Laut Auskunft eines Taxifahrers steigen heute dort algerische Autoschieber ab. Immerhin werben Schilder mit „eau courante“ und „chambres avec salle de bains“, und der Portier hat sogar die Kopie eines Macke-Porträts zur Hand.

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Wir nehmen Abschied von Tunis und fahren über Land. Olivenhaine, Kakteenhecken, verwehter Müll, dann Reben. Auf der Suche nach dem Weingut, das die Studienreisenden im April besuchen werden, erregen wir mit unserem Mietwagen viel Aufsehen in kleinen Dörfern und treffen auf viele hilfsbereite Tunesier, die gern den Weg erklären. Der Rosé ist gut und wir decken uns für die Tage im islamischen Kairouan vorsorglich ein. Weniger anregend: Eine Busladung gelangweilter Strandurlauber, die rücksichtslos über „unsere“ Oliven herfallen. Nächste Station: Hammamet. In der hübschen Medina des Ferienortes ist angenehm wenig Betrieb. Das war mal ein berüchtigtes Piratennest hier – das hätte Jan gefallen! Wir machen einen Strandspaziergang. Auch hier waren die Maler. Bei Nabeul beziehen wir ein günstiges Hotel und Christoph führt uns ins Restaurant „Slovenia“ gleich nebenan, das ein Freund von Johann Lafer betreibt und wo der frische Fisch ganz wunderbar schmeckt.

Blick über Hammamet

Blick über Hammamet

Auf den Spuren der Maler

Heute steht eine längere Fahrt durch flache Steppenlandschaft an. Tankstellen bestehen hier übrigens aus Haufen von Benzinkanistern am Wegesrand! Wir nutzten die Zeit für einen Blick in Paul Klees Tagebuch: Viel Spaß hatten die Malerfreunde offenbar! Sie bemalten Ostereier und ganze Zimmerwände in der Villa des Dr. Jäggi zusammen mit dem begabten Diener Achmed. Klee berichtet von nächtlichen Kissenschlachten und anderen Albernheiten. Sie waren dabei, als Jäggi, der sie auch zuvor schon herumkutschiert hatte, seinen Führerschein machte. Fuhren aber dann doch mit dem Zug nach Kairouan. Zogen den Zorn eines Wirts auf sich, indem sie immer wieder die Hühner ins Bahnhofscafé lockten. Moilliet war wohl stets den Frauen hinterher, Macke immer zum Scherzen aufgelegt, fürchtete sich sehr vor Bakterien, vermisste seine kleinen Söhne und vergaß nicht, Mitbringsel für seine Familie zu kaufen. Klee, der wesentlich ältere, spricht von „Mo und Ma“. Und die Kunst? Klee gelangte hier zu einer eigenen Farbkonzeption: „Es dringt so tief und mild in mich hinein, ich fühle das und werde so sicher … Die Farbe hat mich … für immer … ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler“, notierte er im Tagebuch. Auch für Macke, der herrliche Aquarelle heimbrachte, wurde es der Höhepunkt seines Schaffens: „Dabei kann man sich umdrehen und hat Tausende von Motiven, ich habe heute schon sicher 50 Skizzen gemacht … ich bin in einer Arbeitsfreude, die ich nie gekannt habe“, schrieb er seiner Frau Elisabeth. Nur fünf Monate später fiel er im 1. Weltkrieg in der Champagne.

Heilige Stadt und heimliche Eindringlinge

Die heilige Stadt Kairouan mit ihren unzähligen Moscheen und Minaretten gilt als geistiges Zentrum des Maghreb. Wir wohnen sehr komfortabel in der ehemaligen Kasbah – leider ist es zu kühl für den Pool im Festungshof – und absolvieren das volle Programm:

Große Moschee Kairouan

Große Moschee Kairouan

Die Große Moschee aus dem 7. Jh. ist die älteste Nordafrikas und UNESCO-Weltkulturerbe. Die riesigen Wasserbecken am Rand der Altstadt gehörten zu einem ausgeklügelten Wasserversorgungssystem. In der Barbiermoschee mit ihrem besonders schönen Stuck- und Kachelschmuck hat eben ein Paar geheiratet und wir bekommen Zuckermandeln gereicht. Hier finden wir die Stelle, wo August Macke auf dem Esel ritt und sich fotografieren ließ. Klee schilderte das „Wunder Kairouan“ als „Tausend und eine Nacht als Extrakt mit 99 Prozent Wirklichkeitsgehalt.“ Exotisch ist in der Tat eine Szene in der Medina: Da treibt ein Wunderheiler einem jungen Mann mit einem Ei-Zauber die Kopfschmerzen aus. Das Kamel, das zum Vergnügen der Touristen ein Mühlrad antreiben muss, hat bereits frei. Wir kaufen Datteln in rauen Mengen und kosten mit Ei gefüllte „Brik“. Überall hier sitzen die Männer in Scharen vor den Cafés. Was machen eigentlich die Frauen?

Am nächsten Tag wagen wir uns noch weiter ins Landesinnere vor. Hier scheint wirklich die Zeit stehengeblieben: Die Männer tragen Djellabas aus brauner Wolle, überall Eselskarren. Wir durchqueren Dörfer, in denen Märkte auf der Hauptstraße abgehalten werden: Berge von Fenchel und Mandarinen. Stände mit alten Schuhen und gebrauchter Kleidung. Und Wolfgang braucht eine Menge Geduld, unser Auto durch das Gedränge aus Marktständen, Besuchern, Hand- und Eselskarren zu lavieren. Durch schöne, karge Berglandschaft erreichen wir nach 2 Stunden Makhtar, das römische Mactaris. Hier suchten punische Flüchtlinge nach der Zerstörung Karhagos Zuflucht, die Römer bauten die Handelsstadt weiter aus, später entstanden byzantinische Kirchen in den früheren Thermen. Doch die berühmte Ausgrabungsstätte ist zuerst eine Enttäuschung: geschlossen! Wie immer findet sich sogleich ein hilfsbereiter Tunesier, ein älterer Herr, Chemielehrer im Ruhestand, der uns weiterhelfen möchte. Er berichtet, dass die Angestellten streiken, wir aber von weiter hinten einen guten Blick aufs Gelände werfen könnten. Er bietet sich an uns zu führen. Wir folgen ihm, umkreisen das riesige Areal und kommen an eine Stelle, an der Schafhirten gerade ihre Tiere, die zwischen den antiken Ruinen geweidet haben, regelrecht über die Mauer „werfen“. Die raten uns, doch einfach über die Mauer zu klettern – doch das Gelände wird bewacht. Kurzerhand werden die Wärter herbeigerufen und lassen sich „überreden“: Über die Mauer steigen wir in die alte Römerstadt ein! Wandeln durch die Straßenzüge und erleben die gut erhaltenen Monumente ganz exklusiv. Nach diesem Abenteuer suchen wir eine Einkehrmöglichkeit und erregen in diesem Städtchen fernab der üblichen Touristenrouten als Europäer richtig Aufsehen! Schließlich landen wir mangels Alternative vor einem der völlig verrauchten und dreckigen „Männercafés“. Gleich mehrere Herren eilen herbei, um uns Stühle zurechtzurücken und wir trinken – unglaublich billig – frisch gepressten Orangensaft und Café.

Straßenszene in Makhtar

Straßenszene in Makhtar

Abschied mit Amphitheater

Unsere letzte gemeinsame Station ist das großartigste Monument dieser Reise: das Amphitheater von El Djem, drittgrößtes der römischen Welt. Noch heute überragt es die Kleinstadt und ist von weitem zu sehen. Immer wird der Vergleich mit dem Kolosseum angestellt – doch dieses hier ist noch viel besser erhalten! Vor allem die Keller mit den Löwenkäfigen. Hier fieberten einst 30.000 Besucher bei Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen mit. Wir sitzen in den Rängen und hören von Christoph die Geschichte von der Berberprinzessin, die den Bau als Festung gegen die Araber nutzte.

Im Archäologischen Museum abermals prächtige Mosaiken, u.a. Gladiatorenszenen und die Göttin Africa mit einer eigentümlichen Kopfbedeckung aus Elefantenrüsseln, außerdem ein ansehnlicher Nachbau einer Gutsbesitzervilla. Wir kaufen ein Berber-Krieger-Püppchen mit Krummschwert für Jan. Und nach einem leckeren tunesischen Mittagessen (Hühnchen mit scharfen Linsen) verabschieden wir uns von unseren Mitreisenden. Wolfgang uns ich müssen über Tunis zurück. Daher entgeht uns der zweite Teil der Reise: die Oasenstadt Tozeur mit ihren schmuckvollen Lehmziegelfassaden und Dattelpalmenhainen, die grandiosen Schluchten im Atlasgebirge und die tunesische Wüste, die immer wieder spektakulärer Drehort für Filme wie „Star Wars“ oder „Der Englische Patient“ war. Erst hier beginne Afrika so richtig, „nur im Süden erreicht man die Evasion aus der europäischen Normalität“, schreibt uns unser „Reiseleiter“ nach Hause. Also das, was die Maler vor 100 Jahren schon im Norden fanden… Das wäre dann das Ziel für unsere nächste Reise…

 

Hörbuchtipp: Die Entdeckung der Farbe. Die Tunisreise der Maler Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet. Steinbach sprechende Bücher 2003