Dichtung und Wahrheit – Goethe im Elsass

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Auf den Spuren Goethes? Man denkt an die Goethe-Städte Frankfurt und Weimar. Doch ein kleines Dorf im Nordelsass hat mehr zu bieten. Die Liebe zu einer Pfarrerstochter macht es möglich.

An einem regnerischen Novembertag brechen wir auf, Goethes Spuren im nahen Elsass zu erkunden. Von Reiseleiter, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dr. Stefan Woltersdorff wissen die Mitreisenden mehrheitlich schon, dass er Geschichte lebendig machen kann. Es beginnt in Sessenheim. Hier umgarnten J.W. Goethe und sein Freund Jakob Lenz die Pfarrerstochter Friederike Brion. Erfolgreicher, nach eigener Darstellung, Goethe. Selbst die Kutsche des Pfarrers strich er neu, um sich die Gunst des Vaters zu sichern.

Den Einstieg ins Thema erleben wir vor dem Rathaus von Sessenheim mit einem Krimi der Karlsruherin Eva Klingler. Ihre Beschreibung des Dorfzentrums ist fast deckungsgleich mit dem, was sich unseren Augen durch den herbstlichen Dauerregen darbietet. Nur die Telefonzelle gibt es nicht mehr. Nebenan das Goethe-Memorial in einem ehemaligen Wächterhäuschen. Hier führt uns Herr Woltersdorff in die Geschichte der Familie Brion ein. Gegenüber Wohnhaus und Kirche von Vater Brion. Eine Linde erinnert an … Schiller. Darunter, von einem Schwaben gestiftet, sparsam und klein, ein Gedenkstein an Goethe. Wir umrunden die Kirche, vorbei an den Grabplatten der Familie Brion, und betreten das Gotteshaus. Unter der Kanzel saß Goethe und hielt während langer Predigten heimlich Händchen. Nebenbei hören wir von der gemeinsamen Nutzung der elsässischen Kirchen durch beide Konfessionen auf Anordnung Ludwig des XIV.: den sogenannten Simultankirchen. Die dritte Goethe-Gedenkstätte Sessenheims ist der „Goethehügel“, auf einer alten keltischen Grabanlage. Goethe beschrieb ihn phantasievoll in seiner Biographie, die er nicht umsonst „Dichtung und Wahrheit“ nannte.

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Ein Anlass für lange Predigten zum Schutz von Moral und Dorftöchtern ist im nahen Fort Louis zu suchen, einer Festung Vaubans, zu Goethes Zeiten voll junger, gelangweilter Kerle. Die Landschaft zwischen Rhein und Moder dürfte sich seit damals nur wenig geändert haben. Anschaulich erhalten wir Einblick in die Verhältnisse um den als Hofmeister fungierenden Lenz. Dessen Drama „Die Soldaten“ sowie seine Biographie notiere ich auf der Liste der zu lesenden Bücher. Die Besichtigung der Anlage erfolgt angesichts des Wetters geistig aus dem warmen, trockenen Bus heraus – bei „Literaturreisenden“ wird entsprechende Phantasie vorausgesetzt.

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Nächster Originalschauplatz ist Niederroedern, ehemalige Rodung im Heiligen Wald von Hagenau. Vor dem einstigen Wohnhaus der Familie Brion erzählt unser Reiseleiter von der post-goethischen Friederike und ihren Geschwistern.

Ohne direkten Bezug zur Literatur ist die romanische Kirche St. Ulrich in Altenstadt – heute ein Stadtteil von Wissembourg. Dort war mancher von uns schon oft, ohne von diesem Kleinod zu wissen. Über dem Tor eingemeißelt die alten Symbole, innen dunkel und kalt. Wir werden über 1000 Jahre zurückgeführt, die Angst vor dem Ende der Welt ist groß, die Kirche profitiert. Die Menschen konnten nicht lesen, aber Zeichen verstanden sie: 8 Pfeiler (Unendlichkeit), in jeder Reihe 4 (die Evangelien), 3 Kirchenschiffe (die Dreifaltigkeit), die eckige Basilika (das Diesseits), die runde Apsis (das Göttliche). Vor dem inneren Auge flackern die Kerzen im Dunkeln, man meint den Weihrauch zu riechen.

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Wieder draußen in der Welt wartet der warme Bus und bringt uns über die Grenze hinüber in die Pfalz zum Weintor – Mittagessen, Weinschorle. Der Blick über die Weinberge ist regenverhangen.

Der Nachmittag gehört Wissembourg. Mit Blick auf das Städtchen spazieren wir über den Festungswall, hinunter zur Kirche St. Jean. Hier rief Martin Bucer 1522 zur Reformation auf. Gemeinsam mit uns trifft der hiesige Organist ein und erfreut uns mit einem spontanen Kurzkonzert. Eine Mitreisende berichtet von ihren Erinnerungen an ein stimmungsvolles Weihnachtskonzert in dieser Kirche mit ihrem Chor, vor langer Zeit.

Höhepunkt unseres Besuchs ist St. Pierre-et-Paul. Im Kreuzgang erzählt Herr Woltersdorff von Mönch Otfried, der hier die deutsche Sprache „erfand“, als er, lange vor Luther, die Bibel ins fränkische übersetzte. Sogar eine Hörprobe erhalten wir, vorgetragen aus den alten Schriften. In der Kapelle aus dem 12. Jahrhundert sehen wir eine Kopie des „Christ de Wissembourg“ –  das älteste bemalte Glasfenster der Welt. Die Kirche selbst ist imposant, mit einer prächtigen Orgel und einem 11 m hohen Christopherus-Fresko an der Wand.

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Hier endet das Programm, geplant ist eine Kaffeepause. Die Mehrheit des Publikums hat aber noch nicht genug. Herr Woltersdorff erbarmt sich und schließt einen kurzen Stadtrundgang an, vom ehemaligen Wohnsitz des König Stanislas über das Salzhaus, durch die Schlüpfgass zu einem idyllischen Hinterhof. Es bleiben noch 20 Minuten, und nun fordert unser Reiseleiter bestimmt die Kaffeepause – verkehrte Welt.

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Der Abschied von Wissembourg erfolgt im Bus mit einem Lied von Hannes Wader („Petite Ville“), gewidmet diesem elsässischen Städtchen. Ein schöner Ausklang dieses wunderbaren Tages.

Weitere Veranstaltungen und Reisen mit Dr. Stefan Woltersdorff finden Sie hier.